Tafel 23 | Lagerhaus Casoja

Neue Horizonte für Arbeiterfrauen an der Bergluft

Casoja wurde zum Inbegriff für die Förderung von Frauen aus dem Arbeitermilieu. Leonhard Ragaz, ein Theologieprofessor, Pazifist und Sozialist, tat sich mit seiner Frau und Friedensaktivistin Clara Nadig und Gertrud Rüegg zusammen, um das Volkshochschulheim Casoja zu gründen. Das Projekt wurde um die Zeit von 1919 im Arbeiterviertel Gartenhof in Zürich geboren. Gertrud Rüegg gründete damals den Verein Frauenarbeit Gartenhof, zu dem 1924 die Familie Ragaz dazustiess. Durch gute Beziehungen zu den Pionieren des Kurortes Lenzerheide wurde ein Ausbildungsheim möglich, in dem Frauen in Haushaltskunde, Ernährung, Krankenpflege, Bürgerkunde, Geschichte und Weltliteratur weitergebildet wurden. Heute steht das Haus noch immer Gruppen, Familien und Vereinen offen. Der Verein Bergschulheim Casoja ist die heutige Besitzerin.

In den 1920er Jahren tauchte im schweizerischen Zeitungsblätterwald immer wieder das eigentümliche Wort Casoja auf. Innert kurzer Zeit entwickelte es sich zu einem Inbegriff für die Förderung von Frauen aus dem Arbeitermilieu. Diese Karriere von einer unbedeutenden Flurbezeichnung – Casoja ist das Gebiet an der nordwestlichen Ecke des Heidsees – zu einem Begriff mit frauenemanzipatorischem Anstrich verdankt der Flurname dem protestantischen Theologieprofessor, Pazifist und Sozialist Leonhard Ragaz (1868 – 1945), seiner Frau Clara, geborene Nadig (1874 – 1957), einer bedeutenden Schweizer Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin, und Gertrud Rüegg (1889 – 1949), der treibenden Kraft hinter der Errichtung und Finanzierung des Volkshochschulheims Casoja.

Die Idee von Casoja wurde in Zürch-Aussersihl im Arbeiterviertel Gartenhof geboren. Hier wohnte seit 1919 Gertrud Rüegg, die als Tochter eines Fabrikanten „in grossem Reichtum aufgewachsen, aber seiner nicht recht froh geworden“ war, wie Leonhard Ragaz schrieb. Zusammen mit ihrer Freundin Milly Grob gründetet sie den Verein Frauenarbeit Gartenhof, der den Zweck verfolgte, die Notlage der Arbeiterfrauen zu lindern und ihre Ausbildung zu fördern. Sie organisierten auch einen Kinderhort, boten hauswirtschaftliche Kurse an und vermittelten Ferienaufenthalte im Toggenburg.

1924 bezog auch die Familie Ragaz ein Haus im Arbeiterquartier Gartenhof. Drei Jahre zuvor hatte Leonhard Ragaz seine Professur an der Universität Zürich niedergelegt und im Quartier Gartenhof eine Arbeiterausbildungsstätte eröffnet. Hier lernte er Gertrud Rüegg kennen. Gemeinsam entwickelten sie die Idee eines Volkshochschulheims für junge, zum Teil berufstätige Mädchen und Frauen, hauptsächlich aus Arbeiterkreisen. Dass die Wahl auf Valbella fiel, war auf Leonhard Ragaz‘ familiäre Beziehungen zurückzuführen. Seine Schwester Nina war mit Emanuel Meisser verheiratet. Er und sein Bruder Wilhelm gehörten zu den Pionieren des Kurortes Lenzerheide. Sie waren Mitbesitzer des Grand Hotel Kurhaus, besassen in Lenzerheide eine prächtige Tuffsteinvilla und betrieben in Valbella einen Tuffsteinbruch und ein kleines Elektrizitätswerk. Unweit dieses Elektrizitätswerks befand sich ein kleines Haus, in dem vermutlich Arbeiter des Elektrizitätswerks untergebracht waren.

In diesem Haus, das Platz für 22 junge Frauen bot, wurden 1923 die ersten Kurse des Volkshochschulheims Casoja durchgeführt. Zur Auswahl standen Ferienwochenkurse, die fünf Franken pro Tag kosteten, und zwei- bis dreimonatige Haushaltskurse zu 120 Franken pro Monat. Neben der praktischen Arbeit fand ein zwei- bis dreistündiger Theorieblock statt, der verschiedene Themen umfasste: Haushaltskunde und Ernährung, Säuglings- und häusliche Krankenpflege, Bürgerkunde und Besprechungsstunden, in denen die Mädchen und jungen Frauen Referate über ein selbstgewähltes Thema hielten. Abends wurde Bündner Geschichte erzählt und Bücher der Weltliteratur gelesen und besprochen. Im ersten Jahr besuchten 90 Mädchen die Sommerkurse, im zweiten Jahr wuchs die Zahl auf 120 an. Die Begeisterung und Aufbruchstimmung war gross, wie aus dem Casojalied hervorgeht, das Clara Ragaz-Nadig am 2. Juli 1923 schrieb:

Die dumpfe Luft der Städte
Liegt unter uns, juchhee!
Gegrüsst seist du uns Heide,
Gegrüsst du blauer See!

Doch schon bald reichte der Platz im Häuschen Casoja nicht mehr aus und man musste nach einem Ersatz suchen. Leonhard Ragaz‘ familiäre Verbindung zu den Brüdern Meisser sollte sich ein zweites Mal auszahlen. Emanuel und Wilhelm Meisser besassen unweit des Casoja-Häuschens ein 12‘000m2 grosses Grundstück, das sie vor einigen Jahren erworben hatten. Es war der ideale Standort für den Bau eines grossen Hauses, in dem das Volkshochschulheim untergebracht werden konnte. Gertrud Rüegg kam für einen grossen Teil der Finanzierung auf. Das Grundstück kostete 15‘000 Franken, hinzu kamen die Baukosten und das Architektenhonorar. Die Wahl fiel auf den damals bekanntesten Bündner Baumeister, Nikolaus Hartmann junior. Er war der Schwager der Brüder Meisser. Zusammen besassen sie die Abbaurechte am Tuffsteinlager Briula, nordwestlich des Heidsees. Ihre Firma Hartmann, Meisser & Cie. lieferte auch das Baumaterial. An Ostern 1926 konnte das stattliche Haus, welches das nördliche Ende des Heidsees überragte, bezogen werden.

Die Leitung des Hauses übernahm Gertrud Rüegg. Die meisten Mädchen stammten aus dem Kanton Zürich, die übrigen aus anderen Deutschschweizer Kantonen und vereinzelt auch aus dem Ausland. Neben den Hauswirtschaftskursen wurden auch erholungsbedürftige Fabrikarbeiterinnen aufgenommen, die Liegekuren machten und zum Teil auch an den Besprechungsstunden teilnahmen. 1932 wurde das Haus nach Plänen von Nikolaus Hartmann erweitert. Die Nachfrage blieb bis zum Kriegsende hoch. Das Haus war im Durchschnitt während 50 Wochen pro Jahr ausgelastet. Nach dem Krieg brach die Nachfrage jedoch ein und die Auslastung sank auf 34 Wochen pro Jahr. Die Bedürfnisse vieler junger Frauen hatten sich geändert. Einkehrwochen waren nicht mehr so gefragt. Als Fräulein Real, welche die Leitung von Gertrud Rüegg übernommen hatte, 1945 schwer erkrankte, konnte keine geeignete Nachfolgerin gefunden werden. Damit war das Ende des Volkshochschulheims Casoja besiegelt.

1946 erwarb die Töchterschule der Stadt Zürich das Haus Casoja für 140‘000 Franken. Nach umfassenden Renovationsarbeiten, finanziert durch ein städtisches Darlehen von 125‘000 Franken, wurde das Haus wiedereröffnet. In den folgenden zwanzig Jahren fanden abwechslungsweise Hauswirtschaftskurse, schulische Arbeitswochen, Ferienlager und Skikurse für die Schülerinnen der verschiedenen Abteilungen statt (Gymnasium, Handelsschule, Unterseminar, Diplommittelschule, Kindergärtnerinnen – und Hortnerinnenseminar). Mit dem Kauf des Hauses konnte nun der obligatorische Hauswirtschaftsunterricht in den Lehrplan des Gymnasiums und des Seminars integriert werden. Generationen junger Mädchen sind diese Hauswirtschaftswochen, auch „Huusi“ oder salopp „Rüebli-RS“ – nach der militärischen Rekrutenschule – genannt, in unvergesslicher Erinnerung geblieben. Seit 1976 nahmen auch Knaben an den Hauswirtschaftskursen teil. Die Bedenken der damaligen Bergschulheimleiterin Bettina Härry in Bezug auf die bevorstehende „Männerinvasion“ in Casoja erwiesen sich glücklicherweise als unbegründet.

Heute steht das Haus auch Gruppen, Familien und Vereinen offen. 2026 wird Casoja, das sich heute im Besitz des Vereins Bergschulheim Casoja befindet, sein 100-jähriges Bestehen feiern dürfen. Der eigentümliche Flurname Casoja wird auch weiterhin ein Inbegriff für Erholung und gemeinschaftliche Aktivität bleiben.

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